
Japan, einst die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, kämpft heute mit einer gefährlichen Kombination aus wirtschaftlicher Stagnation und steigender Inflation – eine Situation, die als „Stagflation“ bekannt ist.
Hinzu kommt ein demografischer Wandel, der in seiner Dramatik weltweit einzigartig ist: Die Bevölkerung altert rapide, die Geburtenraten sind auf historische Tiefstände gefallen, und das Erwerbspersonenpotenzial schrumpft. Während andere Volkswirtschaften zumindest punktuell von Wachstum oder jungen Gesellschaften profitieren, steht Japan vor einer doppelten Herausforderung, die tiefgreifende strukturelle Reformen und eine langfristige Strategie verlangt.
Die fragile Wirtschaftslage: Inflation trifft auf Stagnation
In den letzten Jahren verzeichnete Japan eine für das Land ungewöhnlich hohe Inflation. Die Verbraucherpreise stiegen 2024 um 3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – das höchste Niveau seit über drei Jahrzehnten. Treiber dieser Entwicklung waren vor allem steigende Energie- und Lebensmittelpreise, aber auch Lohnerhöhungen im Zuge des angespannten Arbeitsmarktes trugen zur Preisentwicklung bei.
Doch während die Preise steigen, wächst die Wirtschaft kaum: Das reale Bruttoinlandsprodukt legte im vierten Quartal 2024 lediglich um 1,1 Prozent zu. Diese Diskrepanz zwischen Preisentwicklung und wirtschaftlicher Aktivität ist das Kernmerkmal einer Stagflation. In einer solchen Situation verlieren die klassischen Instrumente der Geldpolitik ihre Wirksamkeit: Zinserhöhungen könnten zwar die Inflation bremsen, gleichzeitig aber das fragile Wachstum vollständig abwürgen.
Der Arbeitsmarkt unter Druck
Der japanische Arbeitsmarkt spiegelt die demografischen Herausforderungen wider. Die Erwerbsbevölkerung sinkt, während der Bedarf an Arbeitskräften in vielen Branchen – insbesondere in der Pflege, im Einzelhandel und in der Landwirtschaft – steigt. Der resultierende Arbeitskräftemangel hat die Löhne ansteigen lassen, was wiederum den Inflationsdruck erhöht.
Die Bank of Japan (BOJ) beobachtet diesen Trend genau. Gouverneur Kazuo Ueda erklärte jüngst, dass man zwar die Preisstabilität im Auge behalten müsse, aber auch die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt nicht außer Acht lassen dürfe. Eine Rückkehr zu einer restriktiveren Geldpolitik sei denkbar, müsse aber äußerst vorsichtig erfolgen, um die konjunkturelle Erholung nicht zu gefährden.
Japan altert – und schrumpft
Während wirtschaftliche Schwankungen temporär sein können, ist der demografische Wandel in Japan eine strukturelle Krise. 2024 wurden nur noch 686.000 Kinder geboren – der niedrigste Wert seit Beginn der statistischen Erfassung im Jahr 1899. Die Fertilitätsrate liegt bei gerade einmal 1,15 Kindern pro Frau, weit unter dem zur Bestandserhaltung erforderlichen Wert von 2,1.
Gleichzeitig steigt der Anteil der über 65-Jährigen rapide. Heute ist bereits fast ein Drittel der Bevölkerung älter als 65 Jahre, bis 2060 könnten es rund 40 Prozent sein. Die Gesamtbevölkerung Japans wird nach aktuellen Prognosen von derzeit rund 124 Millionen auf etwa 87 Millionen im Jahr 2070 schrumpfen. Die Folge: eine rapide steigende Altersabhängigkeitsquote, weniger Steuerzahler und mehr Menschen im Ruhestand.
Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft
Die demografische Entwicklung hat weitreichende Folgen für nahezu alle Bereiche der japanischen Gesellschaft. Die Sozialsysteme – insbesondere die Renten- und Gesundheitsversorgung – stehen unter massivem Druck. Die Kosten für die Pflege älterer Menschen steigen, während die Einnahmen des Staates durch schrumpfende Lohnsteuereinnahmen und Konsumsteuern sinken.
Gleichzeitig leidet die Innovations- und Produktivitätskraft der Wirtschaft. Junge, technikaffine Arbeitnehmer werden seltener, was insbesondere für zukunftsträchtige Branchen wie die Digitalwirtschaft und Künstliche Intelligenz problematisch ist. Zudem sind viele Unternehmen noch auf Senioritätsprinzipien ausgerichtet, die ältere Mitarbeiter überproportional bevorzugen, was einer Modernisierung der Arbeitskultur entgegensteht.
Demografie als Verstärker der Stagflation
Die schrumpfende Erwerbsbevölkerung hat direkten Einfluss auf das Wirtschaftswachstumspotenzial. Mit weniger Arbeitskräften sinkt die Fähigkeit der Wirtschaft, produktiv zu expandieren. Gleichzeitig erhöht der Arbeitskräftemangel die Lohnkosten, was wiederum den Preisauftrieb fördert. Dies ist eine klassische Konstellation für stagflationäre Tendenzen.
Gleichzeitig schränkt die alternde Gesellschaft die Spielräume der Fiskalpolitik ein: Der Staat muss mehr Geld in Sozialsysteme stecken und hat weniger Mittel für Wachstumsinvestitionen zur Verfügung. Auch die Geldpolitik verliert an Wirksamkeit: In einem Land mit dauerhaft niedrigem natürlichen Zins und einer abnehmenden Investitionsneigung wirkt selbst eine expansive Geldpolitik nicht mehr wachstumsfördernd, sondern kann lediglich noch Preisblasen verursachen.
Politische Reaktionen und Strukturreformen
Die Rolle der Bank of Japan
Die BOJ hat sich in den vergangenen Jahren weitgehend auf eine ultra-lockere Geldpolitik verlassen. Leitzinsen von 0,5 Prozent und umfangreiche Anleihekäufe sollten Inflation erzeugen und die Wirtschaft beleben. Doch nun, da die Inflation tatsächlich da ist, steht die Zentralbank unter Zugzwang. Eine Rücknahme der expansiven Geldpolitik – das sogenannte Tapering – wird diskutiert, erfolgt aber bislang sehr zögerlich.
BOJ-Gouverneur Ueda betont die Notwendigkeit, nicht vorschnell zu agieren. Man wolle datengetrieben entscheiden, um keine neue Deflationsspirale auszulösen. Dennoch wächst der Druck: Die reale Kaufkraft der Verbraucher sinkt, und auch internationale Anleger fordern eine klarere Strategie.
Reformen am Arbeitsmarkt
Die japanische Regierung versucht, dem Arbeitskräftemangel mit Strukturreformen zu begegnen. So wurde die sogenannte „Teilzeit-Ausnahme“ abgeschafft, die bislang vielen geringfügig Beschäftigten erlaubte, außerhalb des Renten- und Versicherungssystems zu arbeiten. Ziel ist es, insbesondere Frauen stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Darüber hinaus werden Unternehmen ermutigt, ältere Mitarbeiter länger zu beschäftigen. Eine Anhebung des gesetzlichen Rentenalters und der Ausbau von Umschulungsprogrammen sind ebenfalls Teil der Strategie. Doch viele dieser Maßnahmen stoßen auf kulturelle Barrieren: Das traditionelle Rollenbild der Frau und das Senioritätsprinzip in Unternehmen bremsen den Wandel.
Familienpolitik, Zuwanderung und Innovation
Um der sinkenden Geburtenrate entgegenzuwirken, setzt die Regierung auch auf familienpolitische Maßnahmen: Kostenlose Kinderbetreuung, finanzielle Anreize für junge Eltern und mehr Flexibilität bei Arbeitszeiten sollen helfen, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Doch der Erfolg dieser Programme bleibt bislang begrenzt.
Zuwanderung gilt als weiteres Mittel zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes. Japan hat in den letzten Jahren seine Migrationspolitik vorsichtig gelockert. Programme zur Anwerbung ausländischer Pflegekräfte und Facharbeiter wurden eingeführt. Dennoch bleibt die gesellschaftliche Akzeptanz begrenzt, und Sprachbarrieren sowie Integrationsprobleme behindern eine nachhaltige Wirkung.
Gleichzeitig versucht Japan, technologische Innovationen zu fördern – etwa im Bereich Robotik, Pflegeassistenzsysteme oder Automatisierung. Diese sogenannte „Silver Economy“ soll nicht nur die Produktivität steigern, sondern auch neue Wachstumsfelder erschließen. Doch auch hier sind Investitionen und Umsetzung oftmals langsamer als erforderlich.
Ein langer Weg mit wenig Spielraum
Japans Wirtschaft steht am Scheideweg. Die Kombination aus einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung, stagnierendem Wachstum und steigender Inflation ist gefährlich – nicht nur für das Land selbst, sondern auch für seine Rolle in der globalen Wirtschaft. Die Gefahr einer langanhaltenden Stagflation ist real.
Zwar zeigt die Regierung Reformbereitschaft, doch der demografische Wandel lässt sich nicht kurzfristig umkehren. Notwendig sind ein gesellschaftlicher Wandel, mutige politische Entscheidungen und eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen Lage. Japan bleibt ein Land mit enormem Potenzial – aber ohne tiefgreifende Veränderungen droht eine Zukunft in permanenter Stagnation.
In gewisser Weise wird Japan damit auch zum globalen Testfall: Wie geht eine hochentwickelte Gesellschaft mit dem unausweichlichen Altern um? Und welche wirtschaftspolitischen Antworten sind in einer Welt möglich, in der nicht mehr Wachstum, sondern Schrumpfung zum neuen Normal wird?