
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Europa in eine neue sicherheitspolitische Ära geführt. Deutschland steht unter zunehmendem internationalen Druck, mehr Verantwortung für Verteidigung und Abschreckung zu übernehmen.
Das spiegelt sich nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch in den Haushaltsplänen und politischen Weichenstellungen wider. Mit dem sogenannten „Sondervermögen Bundeswehr“ und einem geplanten Verteidigungsetat von rund 62 Milliarden Euro im Jahr 2025 steigt die Bundesrepublik endgültig in eine neue Phase sicherheits- und wirtschaftspolitischer Strategie ein.
Was auf den ersten Blick wie ein gigantischer Kostenblock erscheint, birgt bei genauerer Betrachtung transformative Potenziale. Die zunehmenden Rüstungsausgaben können als Motor für technologischen Fortschritt, wirtschaftlichen Strukturwandel und einen neu gedachten Generationenvertrag dienen. Führende Ökonomen wie Moritz Schularick, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), betonen: „Verteidigungsausgaben sind nicht automatisch ökonomisch schädlich – sie können sogar eine stimulierende Wirkung auf Innovation und Wachstum haben.“
Ökonomische und technologische Dynamik
Rüstungsinvestitionen als Impulsgeber
Der Bundeshaushalt 2024 sieht 51,8 Milliarden Euro für die Verteidigung vor – ergänzt durch jährlich abrufbare Mittel aus dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen. Laut Schularick sei jedoch der längerfristige Kurs „noch nicht verbindlich festgelegt“, was die Planungssicherheit einschränke. Dennoch zeichnet sich ein Trend ab: Deutschland steuert auf ein Verteidigungsbudget von etwa zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu – ein NATO-Ziel, das jahrelang vernachlässigt wurde.
Diese Investitionen betreffen nicht nur Panzer, Munition und Uniformen. Sie lösen in der gesamten Industrie Folgeaufträge aus – vom Maschinenbau über die Halbleiterproduktion bis zur Luft- und Raumfahrt. „Man darf nicht vergessen: Viele Technologien, die heute unsere zivile Welt prägen, haben ihren Ursprung im militärischen Bereich“, so Schularick im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Spillover-Effekte in die Zivilwirtschaft
Die Ökonomie kennt das Phänomen als „Spillover“ – technologische Entwicklungen in einem Bereich führen zu unerwarteten Innovationen in anderen. So kann etwa die militärische Forschung an Künstlicher Intelligenz (KI) und autonomer Navigation die Logistik- und Pflegebranche revolutionieren. Die Rüstungsindustrie wirkt somit als Katalysator für neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle.
Ein Beispiel ist die Entwicklung unbemannter Flugkörper: Drohnentechnologien, ursprünglich für Überwachungs- und Aufklärungseinsätze entwickelt, finden heute Anwendung bei der Paketzustellung, in der Agrarwirtschaft und im Katastrophenschutz. Auch Navigationssysteme, Glasfaserkommunikation und Satellitendatenverarbeitung haben ihren Ursprung in militärischen Innovationsprogrammen.
Technologische Schubfelder
Künstliche Intelligenz und Robotik
Die Automatisierung militärischer Systeme – von Drohnen über Kampfroboter bis hin zu digitalen Entscheidungshelfern – erzeugt Innovationsdruck in KI-gestützten Assistenzsystemen. Diese Entwicklungen sind leicht adaptierbar für den zivilen Bereich: etwa in der Pflege älterer Menschen, in der Intralogistik großer Unternehmen oder in selbstfahrenden Lieferfahrzeugen.
Beispielsweise investiert Rheinmetall Defence inzwischen gezielt in Startups, die autonome Robotiklösungen für Lager und Sicherheitsdienste entwickeln. Diese „Dual-Use-Technologien“ bringen militärische Robustheit und zivile Funktionalität zusammen – ein Markt, dessen Volumen laut PwC bis 2030 auf über 300 Milliarden Euro anwachsen soll.
Kommunikations- und Satellitentechnik
Im Bereich der Kommunikationstechnologien fließen Milliarden in hochsichere Netze, verschlüsselte Satellitenverbindungen und krisenresistente Infrastruktur. Diese Investitionen helfen nicht nur im Verteidigungsfall, sondern auch im zivilen Katastrophenschutz oder bei der Resilienz gegen Hackerangriffe.
So nutzt das DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt) Technologien aus dem militärischen Bereich für den zivilen Ausbau satellitengestützter Frühwarnsysteme – etwa zur Erkennung von Waldbränden oder Hochwasserlagen.
Industrielle Produktion und Fertigung
Aufträge an die Rüstungsindustrie führen zur Modernisierung der Fertigungskapazitäten. Mittelständische Zulieferer investieren in 3D-Druck, Präzisionsmechanik und digitale Produktionsketten. Die Investitionen kommen häufig aus öffentlichen Mitteln, verbleiben aber langfristig als Innovationsvermögen in der deutschen Industrie.
Ein Beispiel: Der Maschinenbauer KUKA hat im Rahmen eines NATO-Forschungsprojekts Fertigungsroboter entwickelt, die mittlerweile auch in der Automobilindustrie Anwendung finden – insbesondere bei der Umstellung auf Elektromobilität.
Transformation der Wirtschaft
Rüstung als Beschleuniger des Strukturwandels
Die deutsche Wirtschaft steht an einem Wendepunkt. Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und De-Globalisierung fordern strukturelle Anpassungen. Verteidigungsausgaben können laut einer Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) einen entscheidenden Impuls liefern, da sie Unternehmen zu Investitionen in neue Technologien zwingen – unabhängig von kurzfristiger Rentabilität.
„Rüstungsaufträge sind oft risikofreudiger als private Bestellungen. Sie ermöglichen Sprünge, die sonst nie finanziert würden“, erklärt IW-Experte Hubertus Bardt.
Öffentlich-Private Innovationsnetzwerke
Die Bundesregierung hat im Rahmen der „Agentur für Innovation in der Cybersicherheit“ sowie der „Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND)“ neue Plattformen geschaffen, in denen Forschung, Industrie und Startups gemeinsam an Projekten arbeiten. Ziel ist die Übertragung militärischer Spitzenforschung in marktfähige Produkte – z. B. im Bereich Quantenverschlüsselung oder Energieeffizienz.
Generationengerechtigkeit und gesellschaftliche Legitimation
Soziale Balance statt Militarisierung
Der Vorwurf, Aufrüstung gehe zulasten des Sozialstaats, ist alt – und nicht unbegründet. In Zeiten knapper Haushalte wirkt jeder Euro für Verteidigung wie ein Euro weniger für Bildung, Gesundheit oder Renten. Doch Ökonomen wie Schularick setzen dem ein alternatives Narrativ entgegen: „Verteidigungsausgaben, wenn sie richtig strukturiert sind, schaffen Wachstum, Arbeitsplätze und Steueraufkommen – und stabilisieren damit den Sozialstaat.“
Mit anderen Worten: Investitionen in Sicherheit können sich mittel- bis langfristig auch sozial auszahlen, wenn die Innovationsgewinne sinnvoll verteilt werden. Der Staat muss jedoch durch gezielte Regulierung und Transfers dafür sorgen, dass diese Effekte tatsächlich bei der Bevölkerung ankommen.
Verantwortung gegenüber künftigen Generationen
Ein zentrales Argument für eine positive Sicht auf die Aufrüstung liegt im Generationenvertrag. Deutschland altert. Die Innovations- und Wohlstandsbasis der Zukunft muss heute gelegt werden. Rüstungsgetriebene Technologieentwicklung kann dabei helfen – wenn sie weitsichtig eingesetzt wird.
Ein Beispiel ist der Aufbau deutscher Chipfabriken: Die technologische Souveränität ist sicherheitspolitisch motiviert, kommt aber der gesamten Industrie zugute. Unternehmen wie Intel und TSMC investieren inzwischen Milliarden in Deutschland – unter anderem, weil der Staat strategische Bedeutung betont und Fördermittel bereitstellt.
Risiken und Herausforderungen
Trotz aller Potenziale bleibt die militärisch-industrielle Transformation ein Balanceakt. Kritiker warnen vor einer gefährlichen Abhängigkeit von Rüstungsaufträgen oder einer Militarisierung der Innovationslandschaft. Zudem sind Dual-Use-Technologien schwer zu kontrollieren – die Grenze zwischen ziviler und militärischer Nutzung verschwimmt oft.
Auch ethische Fragen stellen sich neu: Sollten autonome Waffensysteme weiterentwickelt werden, wenn deren Software später in Pflegerobotern zum Einsatz kommt? Wie lässt sich sicherstellen, dass staatliche Forschungsförderung nicht missbraucht wird?
Handlungsempfehlungen
- Langfristige Finanzplanung: Der Staat muss über den aktuellen Haushalt hinaus verlässliche Perspektiven für Verteidigung und zivilen Technologietransfer geben.
- Gezielter Technologietransfer: Innovationsgewinne aus der Rüstungsforschung sollten durch Förderprogramme in die Wirtschaft gebracht werden – insbesondere in den Mittelstand.
- Stärkung öffentlicher Innovationsnetzwerke: Kooperationen zwischen Rüstungsindustrie, zivilen Hochschulen und Startups ausbauen.
- Technologieoffensive in der Ausbildung: Bildungspolitik muss sich auf sicherheitsrelevante Technologiefelder ausrichten – von Informatik bis Werkstoffkunde.
- Demokratische Kontrolle und gesellschaftlicher Dialog: Eine offene Debatte über den legitimen Umfang von Aufrüstung ist notwendig, um gesellschaftliche Akzeptanz zu sichern.
Aufrüstung kein Widerspruch
Aufrüstung muss kein Widerspruch zur zivilen Wohlstandsentwicklung sein. Im Gegenteil: In einer multipolaren Welt, in der Sicherheit, Technologie und Wirtschaft zunehmend verflochten sind, kann ein kluges Verteidigungsbudget als Hebel für Transformation wirken. Entscheidend ist, dass Politik und Gesellschaft diese Dynamik gestalten – mit Augenmaß, Transparenz und Zukunftsverantwortung.
Wie Schularick betont: „Wir dürfen Sicherheit nicht länger als reinen Kostenfaktor sehen – sie ist ein Teil der Daseinsvorsorge und kann, wenn intelligent eingesetzt, auch Teil der Lösung unserer wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen sein.“